Konformisten als Dissidenten ... Wutbür-, pardon: Besorgte Bürger poltern "Wir sind das Volk!"

Ein Kommentar der Redaktion Sachzwang FM

An kaum einer Bewegung läßt sich so gut darlegen, daß der Faschismus "aus der Mitte der Gesellschaft" kommt und eben nicht von schaurigen Rändern aus diese Mitte etwa infiltriert. Und das war schon immer so: Die Marginalisierten und prekären Existenzen hatten von einer enthemmten Volksbewegung noch nie Gutes zu erwarten, die nur fürchtet, nach einem "gesellschaftlichen Abstieg" so zu enden, wie man selbst schon lange ist.
Die Extremismusdoktrin, die besagt, die politische Mitte sei per se gut und moralisch, die Ränder - links und rechts - hingegen suspekt und gefährlich, hat nur den einen Sinn; kontroverse gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu diskreditieren und dem allgemeinen Konformismus Vorschub zu leisten. So auch in den jüngsten Mobilisierungen. Da wird auf die zugegebenermaßen bedrohliche Losung von der "neuen Normalität", unter der nun zu leben sei, geantwortet

"Wir wollen unser Leben zurück!",

also ein Motto, das nicht zufällig an den letzten Bundeswahlkampf erinnert: "Hol dir dein Land zurück" (AfD). Dieses ewige Beschwören einer schöneren Vergangenheit mag manchen nachvollziehbar sein, vielleicht sogar instinktiv ins nostalgische Herz treffen, links ist sie nicht, ganz im Gegenteil. Links, also aufklärerisch und humanistisch, fortschrittlich und emanzipatorisch, wäre es, gegen alte und "neue Normalität" zu mobilisieren. Denn für allzu viele Menschen war auch das Leben vor den ach so autoritären Grundrechtseinschränkungen "in diesem Land" nicht so erstrebenswert, wie es Reaktionäre so gern verklären.

Das Fahrradschloß-Paradox

Interessant ist auch der unverhohlene Opportunismus der Rechten, der offenbar auf die Vergeßlichkeit der Menschen baut. Als im März die ersten Maßnahmen verhängt wurden, hatte die Partei AfD noch nervös mit sich gerungen und gezögert, wie sie sich positionieren sollte: Härte vom Staat einfordern? Wutbürgerrechte einfordern? Immerhin widersprechen sich diese Optionen ja diametral, was nicht einer gewissen Komik entbehrt. Zeitlicher Druck bestand jedenfalls, war die Partei doch gewöhnt, den öffentlichen Diskurs vor sich her zu treiben,² während sie nun in abseitige Irrelevanz abzudriften drohte. Daher fiel Beatrix Storch nicht mehr ein als zu mosern,

"Die Kanzlerin führt nicht, sie reagiert wieder nur!",

was ja gar keine inhaltlich bestimmte Kritik am Regierungshandeln ist, sondern bloß die sinnhohle Einforderung einer autoritären Pose. Nun, wo längst klar ist, daß unbescholtene "besorgte Bürger" kein höheres Staatsziel kennen als eine brummende Wirtschaft und möglichst viel alte Normalität, die sie "Freiheit" nennen, hat sich mittlerweile herausgeschält, wo die Rechte sich zu positionieren gedenkt: wenn schon nie auf der Seite libertärer Gesellschaftspolitik, so doch auf den Ideologemen "freiheitlicher" Topics. Und die sehen vor, daß wo gehobelt wird, auch Späne fallen. Den Sozialdarwinismus hat es noch nie gekümmert, wenn im marktwirtschaftlichen Hauen und Stechen manche entweder ökonomisch verelenden oder nun vielleicht sogar gesundheitlich unter die Räder kommen.
Doch halt! Die gefährliche Krankheit gebe es ja gar nicht, die sei doch ein Hirngespinst, um Herrschaftstechniken auszuprobieren. Das zeigten doch die vernachlässigbaren, jedenfalls kaum dramatischen Fallzahlen, die täglich durch die Medien geistern. Daß die Zahlen genau deshalb so glimpflich scheinen, weil die restriktiven Regeln (der sogenannte "lockdown") inkraft sind, kommt den einfältigen Gemütern, die das Virus nicht sehen können, nicht in den Sinn. Man könnte es das Fahrradschloß-Paradox nennen: An meinem Schloß sind gar keine Spuren von Kneifzangen und Metallfeilen erkennbar, niemand hat versucht, das Fahrrad zu klauen, das Schloß ist also völlig sinnlos!
Grotesk, daß ausgerechnet rabiate Hitzköpfe und lautstarke Demagogen den Begriff der Verhältnismäßigkeit, die sie ja anmahnen und verletzt sehen, für sich in Anschlag bringen.

Freiheit für die Bürgerrechte!

Bemerkenswert auch, daß eine demokratisch gewählte Regierung ausgerechnet von biederen Wutbürgern als "Obrigkeit" diffamiert wird, als hätten ausgerechnet sie jemals ein Problem mit Staat und Hierarchie gehabt. Menschen, die die coronalen Abstandsregeln achten, gelten ihnen als "Untertanen" oder "Systemlinge", als wären sie selbst die Rächer der Entrechteten. Diese Herrschaften fangen erst an zu mosern, wenn sie nicht mehr ins Fitnesscenter oder Fußballstadion dürfen, haben aber im übrigen natürlich keinen Begriff vom autoritären Staat, weil sie selbst dessen Wegbereiter und Fußvolk sind. Bei Protesten gegen gewaltsame Abschiebungen oder gar gegen die neuen Polizeigesetze, die nun wirklich einen autoritären Schub in Deutschland anzeigen, hat man diese Freiheitshelden und schwarzrotgoldnen Würstchen nie gesehen. Wie sie sich nennen, ist schon so egal wie das, wovon sie sich angeblich abgrenzen. Denn Corona-Skeptiker oder gar Corona-Leugner, "Truther" oder gar Info-Krieger sind sie in jedem Fall. Es ist ja auch eine Spezialität dieser Rechten, die entschiedene Kritik an ihren Einlassungen mit "Zensur" verwechseln; was nichts anderes aussagt, als daß sie für sich reklamieren, keinen Widerspruch dulden zu müssen, also selber Monopolisten der Redefreiheit zu sein.

Ihre Feindbilder sind in diesen Tagen klar umrissen, da braucht man nur den Phänotyp von Lindner und Lauterbach zu vergleichen. Hier der schneidige, klare, fordernde, anpackende Volkstribun, der ein kaufmännisches Realitätsprinzip und "gesunden Wettbewerb" verkörpert, dort der klapprige, immer etwas schüchtern und ungelenk wirkende, übervorsichtige Intellektuelle mit der Fistelstimme. Dieses Setting ist das gefundene Fressen für jeden Antisemiten, in dieser Konstellation sich mit Leichtigkeit zu entscheiden. Gegen "Panikmache" und "Verweichlichung" nämlich, aber das ist ja alles nichts neues. Die andere Haßfigur der verstockten Hut- und Wutbürger gibt der sympathische Intellektuelle Drosten ab, bezeichnenderweise der am wenigsten zinnsoldatenhafte unter den prominenten Virologen. Als er vor der Möglichkeit einer bereits zur Phrase geronnenen "zweiten Welle" der Epidemie warnte, hetzten die Wutbürger und ihre Medien: "Drosten droht mit einer zweiten Welle". Wer so spricht, outet sich als legitimer Nachfolger mittelalterlicher Mordbrenner, bekanntlich wurde den Juden das Grassieren der Pest angelastet, zahllose wurden in Pogromen attackiert.

Der Konformist als Dissident

Eine Verkümmerung politischen Denkens, ein beunruhigender Schwund politischer Urteilskraft, wie bei den - sich mit psychopathischen Anonymous-Grinsemasken schmückenden - Volksprotestlern Begriffe wie "Unterdrückung" und "Zensur" benutzt werden. Ist doch üblicherweise "Unterdrückung" die Niederhaltung einer sozialen Klasse zugunsten und im Interesse einer anderen; oder "Zensur" das Verbot einer oppositionellen politischen Meinung zugunsten der regierenden. Das Gemotze, hier werde durch die Regularien eines Gesundheitsregimes, das doch alle betrifft, jemand unterdrückt (als nächstes durch die Straßenverkehrsordnung?), ist aber genauso dumm wie, die Warnung vor erwiesener Desinformation mit politischer "Zensur" zu verwechseln. Dieser Verfall politischer Kultur, Verballhornung der Begriffe, ist schon länger im Gange, man wird sich noch erinnern an das mit rassistischen Obszönitäten gespickte Schmähgedicht des Spaßmachers Böhmermann, das als frech-provokante "Satire" ausgegeben wurde, als wäre einem Reaktionär wie Erdogan nicht anders beizukommen. Schon da wurde das schenkelklopfend johlende Deutschland bestens bedient, das Ressentiment kann sich als mutige Dissidenz aufspielen, ein konformistisches Kartoffelmilieu, das auch Leute wie Nuhr alimentiert, einen weiteren Vertreter der Kabarett-Schwundform namens Comedy.
Reichsbürger und "Verschwörungstheoretiker" sind da bloß die albernen Karikaturen einer alten wie neuen Normalität, der Schaum auf der trüben Suppe, die da "aus der Mitte der Gesellschaft" zusammenfließt.

 

²) Was im übrigen nur ein weiteres Indiz dafür ist, daß der faschistische Impuls der Mitte der Gesellschaft innewohnt. Wie sonst könnte es einer rechten Kraft möglich sein, sich als Anwalt der Bevölkerung zu gerieren und damit die politische Mitte unter Zugzwang zu setzen?